Les Chantiers de la Liberté

Idées et analyses sur les dynamiques politiques et diplomatiques.

„Wir Europäer sind die großen Verlierer dieses Kriegs“

„Wir Europäer sind die großen Verlierer dieses Kriegs“

Pierre Lellouche war Präsident des Nato-Parlaments und französischer Europa-Minister. Hier spricht er über den Ukraine-Krieg und die sich anbahnende neue Weltordnung. Von Trumps Vize J. D. Vance erwartet er eine „kopernikanische Revolution“ in Amerika.

Jürg Altwegg

Paris – Pierre Lellouche, 1951 in Tunis geboren, kam im Alter von fünf Jahren nach Paris, wo seine Eltern ein kleines Restaurant eröffneten. Er hat in Paris und Harvard studiert, arbeitete nach dem Militärdienst mit dem legendären Philosophen Raymond Aron und war Chefredakteur der renommierten Zeitschrift Politique étrangère.

 

1992 wurde er als Abgeordneter der Gaullisten ins französische Parlament gewählt. Von 2004 bis 2006 präsidierte er die Parlamentarische Versammlung der Nato. Lellouche war Berater der Präsidenten Chirac und Sarkozy. Letzterer ernannte ihn zum Minister für Europa, später zum Minister für Außenhandel.

2017, nach dem Scheitern von Sarkozys Kandidatur in der Vorwahl, zog er sich aus der Politik zurück. Heute schreibt Lellouche vielbeachtete Bücher über geopolitische Themen. Sein neues handelt vom Krieg in der Ukraine. Er schildert, wie er entstand und die Welt verändert. Im Anhang publiziert er Dokumente über die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland, die im März und April 2022 geführt und abgebrochen wurden.

 


Weltwoche: Monsieur Lellouche, wann waren Sie zum ersten Mal in Kiew?
Pierre Lellouche: Im April 2005, in meiner Funktion als Präsident des Nato-Parlaments. Einer meiner Vizepräsidenten war der slowakische Politiker Jozef Banás, der heute zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes zählt. Er schrieb über die am Ende des Kalten Kriegs herrschende Aufbruchstimmung ein Buch, dessen französische Übersetzung gerade erschienen ist: „Die Zeit der Begeisterung“. Es beginnt mit der Beschreibung unseres Besuchs beim ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko.

Ich war auch als Mitglied der französischen Nationalversammlung oft in der Ukraine und habe von Juschtschenko einen Orden bekommen. Als Europa-Minister von Präsident Sarkozy war ich bemüht, Kiew zu unterstützen. Wir gründeten damals den Verein der Freunde der Ukraine.

 

Weltwoche: Juschtschenko wollte den Nato-Beitritt seines Landes.
Lellouche: Und wie! Er war besessen von dieser Idee. Aber damit hatte er keineswegs eine Mehrheit der Bevölkerung auf seiner Seite. Den meisten Politikern schwebte eine Brückenfunktion zwischen Russland und dem Westen vor. Polen hatte nach der Befreiung einen spektakulären Aufschwung erlebt. Die Ukraine hingegen versank immer tiefer im Sumpf der Korruption und Inkompetenz. Sie war dem postsowjetischen Russland sehr ähnlich. Es gab den unermesslichen Reichtum der Oligarchen, die Lage der Armen war elend. Viele Ukrainer wanderten aus.


Weltwoche: Was sagten Sie zu Juschtschenko?
Lellouche: Dass die Fokussierung auf die Nato ein Irrtum sei. Dass es zunächst darum gehen müsse, mehr Ordnung und Gerechtigkeit herzustellen und eine funktionierende Wirtschaft aufzubauen. Für mehr Demokratie zu sorgen.


Weltwoche: Gab es irgendein Anzeichen, dass es zum Krieg kommen könnte?
Lellouche: Ich war beim Euromaidan vor Ort. Tausende waren gekommen, zum Teil bewaffnet, zum Äußersten entschlossen. Andere gaben sich moderater. Die Stimmung war revolutionär, russenfeindlich. In der ganzen Stadt patrouillierten Spezialeinheiten der Polizei. Schüsse waren zu hören, es gab Tote.


Weltwoche: Haben Sie Neonazis gesehen?
Lellouche: Nein. Aber Amerikaner. Victoria Nuland war da. Vertreter der Stiftung von John McCain. Mir ging es darum, die demokratischen Bemühungen zu unterstützen wie vorher in Georgien. Als Nato-Präsident hatte ich es mit dem georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili zu tun. Er hatte israelische und amerikanische Berater um sich geschart, außerdem den französischen Europa-Abgeordneten und Philosophen Raphaël Glucksmann.

 

Weltwoche: Saakaschwili wollte in die Nato.
Lellouche: Russland hatte regelmäßig gegen den Beitritt ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten zur Nato protestiert, aber nichts unternommen. Auch die Aufnahme der baltischen Staaten, die zur Sowjetunion gehört hatten, schluckte Moskau. Aber Georgien, Belarus und die Ukraine sind dem russischen Selbstverständnis nach Teil von Russland.

Am Nato-Gipfel 2008 in Bukarest wollte George W. Bush den Beitritt von Georgien und der Ukraine festmachen. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy waren dagegen und warnten, das führe zu Krieg. Man einigte sich auf die Formel, es sei die Bestimmung der Ukraine, der Nato beizutreten. Es war der schlechteste aller Kompromisse. Vier Monate später schickte sich Saakaschwili an, die von Russland besetzten Gebiete in Südossetien zurückzuerobern. Er war überzeugt, dass ihn die Amerikaner unterstützen würden. Sarkozy reiste nach Moskau und Tiflis, um den Krieg zu stoppen. Es war der Präzedenzfall für den Krieg in der Ukraine.


Weltwoche: Sie sprechen in Ihrem Buch von einem „Sezessionskrieg“.
Lellouche: Die Ukraine hat immer wieder versucht, sich von den jeweiligen Besatzern zu befreien. Mehrere Jahrhunderte lang war das Polen-Litauen. Die Russen kamen, weil sie von den Ukrainern gegen die Schweden zu Hilfe gerufen wurden. Sie gingen nicht wieder. Im 20. Jahrhundert entstand ein neues Nationalgefühl, das den Wunsch nach Unabhängigkeit nährte.

Putins Angriff auf die Ukraine ist die dritte Episode dieses Sezessionskriegs.


Weltwoche: Episode eins spielte zur Zeit des Ersten Weltkriegs, der Russischen Revolution.
Lellouche: Zwischen 1917 und 1920 war die Ukraine ein Staat. Die zweite Episode begann 1941, als die Deutschen kamen. 1945 entstand die sowjetische Ukraine mit ihren heutigen Grenzen. Nach Stalins Tod kam die Krim hinzu, sie war ein „Geschenk“ von Chruschtschow.


Weltwoche: War dieses Geschenk eine Kompensation für die stalinistischen Verbrechen?
Der deutsche Historiker Arno Lustiger hat nach Ende der Sowjetunion das „Schwarzbuch: Der Genozid an den sowjetischen Juden“ von Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg herausgegeben. Lustiger berichtet, dass Stalin den Juden, die ihn aus der ganzen Welt gegen Hitler unterstützt hatten, nach dem Krieg unterstellte, dass sie auf der Krim ein zweites Israel begründen wollten.

Lellouche: Das kann sein. So oder so keimt das Streben der Ukraine nach Unabhängigkeit immer dann auf, wenn sich eine Möglichkeit abzeichnet. Wenn es diese Möglichkeit verpasst, ist das Land zum Verschwinden verurteilt.

Die ukrainische Delegation, die 1918 zur Friedenskonferenz nach Paris kam, wurde von einem Juden geleitet, Arnold Margolin. Sie wollte die Anerkennung der Unabhängigkeit erreichen. Mit der Ukraine war es damals so, wie es heute mit den Kurden ist: Kein Mensch kümmert sich um sie. Das Schicksal der Ukraine war den Siegern wie den Verlierern des Ersten Weltkriegs egal.

Von allen wurde sie instrumentalisiert, alle waren von ihrem Verschwinden überzeugt. US-Außenminister Robert Lansing erklärte: „Ich kenne nur ein Volk, das russische.“ Die Amerikaner und die Franzosen rieten Margolin, sich im russischen Bürgerkrieg mit Alexander Koltschak, dem Oberbefehlshaber der Weißen Armee, oder den Bolschewiken zu arrangieren. Die Folge waren die sowjetische Repression und der Holodomor mit vier Millionen Toten.

Schon während der kurzen Unabhängigkeit kam es zu Massakern an den Polen, den Juden – stets sind die Juden die ersten Opfer.


Weltwoche: 1941 wurden die „Einsatzgruppen“ der Nazis von den Nationalisten unterstützt.
Lellouche: Die Kollaboration der Nationalisten mit Stepan Bandera war vorbereitet. Aber natürlich wollte auch Hitler keineswegs die Unabhängigkeit, für ihn waren die Ukrainer wie die Russen Untermenschen. Bandera wurde verhaftet. Stalin ging aus dem Weltkrieg gestärkt hervor.

Die ukrainische Guerilla führte den Kampf bis 1955 mit Attentaten auf die sowjetischen Besatzer weiter.

Weltwoche: Sie erinnern in Ihrem Buch daran, dass François Mitterrand und George Bush gegen die Unabhängigkeit der Ukraine waren.
Lellouche: Nach dem Zerfall der Sowjetunion ging es darum, den Russen den Zugriff auf die ukrainischen Atomwaffen zu ermöglichen. Die Ukraine hatte begonnen, Raketen zu verkaufen, vor allem im Mittleren Osten. Die Amerikaner fürchteten, dass Atomwaffen in die Hände von Terroristen gelangen könnten. Sie finanzierten die Rückführung nach Russland.

Ich war bei einer Rückführung von atomaren Sprengköpfen und Plutonium aus Kasachstan nach Russland beteiligt. In der Ukraine existiert eine Atomindustrie, die nicht abgewickelt wurde und zum Problem werden könnte. Die Russen und die Amerikaner arbeiteten Hand in Hand, weil man der chaotischen Ukraine nicht vertrauen konnte. Aber sie wollte die Sprengköpfe – es waren 5000 – nicht herausrücken.

Der amerikanische Politologe John Mearsheimer ist der Ansicht, dass der Krieg mit der Übergabe der Atomwaffen an Russland begann. Wären sie in der Ukraine geblieben, glaubt Mearsheimer, hätte Putin nicht angegriffen. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass der Krieg schon früher begonnen hätte: Eine Ukraine mit Atombomben ist für Russland nicht akzeptierbar.


Weltwoche: Als Gegenleistung gab man ihr Sicherheitsgarantien.
Lellouche: Spätestens seit dem Angriff auf die Ukraine weiß die Welt, was solche Garantien wert sind: nichts.

Die Folge davon: Jedes Land, das um seine Sicherheit fürchtet oder Eroberungsgelüste hegt, will atomar aufrüsten. Dies ist vor allem in Asien und im Nahen Osten zu beobachten. Der Iran, die Golfstaaten, Südkorea, Japan hegen entsprechende Pläne.

Am Ende des Kriegs wird möglicherweise auch die Ukraine über die Atombombe verfügen. Die Ukraine will sie, um ihre Sicherheit zu garantieren. Ich habe an einer TV-Diskussion teilgenommen, in der eine Ukrainerin unbekümmert erklärte, dass ihr Land im Kampf um sein Überleben die Atomwaffen einsetzen würde.

Mahnern warf sie vor, sie würden sich aus Angst vor Putin in die Hosen machen. Auf diesem Niveau wird heute diskutiert. Wenn die Ukraine über die Atombombe verfügt, will sie Polen ebenfalls. Dann stellt sich die Frage für Deutschland. Letztlich geht es um das Weiterbestehen der EU.


Weltwoche: Sie erwähnten Bush, Mitterrand. Was sagten die Deutschen?
Lellouche: Sie machten Geschäfte. Die Europäer waren nie in der Lage, gegenüber Russland eine Strategie zu entwickeln.

Die Ukraine wurde zur Geisel der Beziehungen zwischen Amerika und Russland. Anfangs ging das gut. Ich war in Sewastopol, im Hafen lagen russische und ukrainische Schiffe nebeneinander vor Anker. Offiziere beider Länder aßen zusammen im Restaurant.


Weltwoche: In welchem Jahr war das?
Lellouche: 2005. Wir hatten das Abkommen über die Atomwaffen. Die Lage in der Ukraine war chaotisch, aber in Europa interessierte sich niemand für sie.

Alle waren auf ihre Geschäfte mit Russland fixiert. Der Kalte Krieg in den Köpfen war zu Ende, es gab keinen Grund, Russland zu boykottieren. „Wandel durch Handel“ war das Motto der Deutschen. Im Nachhinein hat man von einer Unterwanderung durch die Russen gesprochen, vom KGB, dem Einfluss der russischen Medien – das hat es zweifellos auch gegeben.

Aber es war gar nicht nötig. In Deutschland herrschte ein totaler Konsens gegenüber Russland, dafür brauchte es keine Propaganda. Die Unternehmer, die Politiker aller Parteien, die Gewerkschaften waren an ihm beteiligt. Keiner hat gesagt: Achtung, das könnte gefährlich sein.


Weltwoche: Und in Frankreich?
Lellouche: Wir machten auch unsere Geschäfte in Russland. Die Presse ist gegenwärtig antirussisch und proamerikanisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es umgekehrt, die Intellektuellen hielten es mit der Kommunistischen Partei, bewunderten die Sowjetunion.

Heute verkörpert Russland den Imperialismus. Alle Verbrechen, die der Westen begangen hat, werden ausgeblendet. Putin ist nicht Hitler, seine Ideologie und sein Vorgehen können in keiner Weise mit denen der Nazis gleichgestellt werden. Mit der Münchner Konferenz von 1938, als die Welt vor Hitler kapitulierte, als er noch hätte gestoppt werden können, hat das alles nichts gemein.


Weltwoche: Aber genau das geschieht. In der Wahrnehmung ist dieser Krieg zum Religionskrieg geworden. Die Guten gegen die Bösen. Wie würden Sie Putins Weltbild umschreiben?
Lellouche: Russland fühlt sich als Gralshüter der abendländischen Werte und Traditionen, die bei uns zerstört wurden: Religion, Familie, Nation. Für die Zerstörung dieser Werte ist auch die Masseneinwanderung verantwortlich, die unsere Gesellschaften zutiefst verändert hat.

Europa hat sich aus rein emotionalen Gründen zu diesem Krieg hinreißen lassen, ohne sich auch nur eine Sekunde lang mit den Folgen für unsere nationalen Interessen zu befassen. Es wurden irrationale Kräfte freigesetzt, die niemand mehr kontrolliert. Zwischen Russland und der Ukraine besteht eine tiefe Beziehung. Viele Familien sind russisch und ukrainisch. Es ist für die Russen undenkbar, sich von der Ukraine zu trennen.

 

Weltwoche: Sie zitieren Solschenizyn.
Lellouche: Für Solschenizyn gehörten die baltischen Staaten und die Republiken im Kaukasus und in Zentralasien – mit Ausnahme Kasachstans – nicht zur russischen Kultur. Im Gegensatz zur Ukraine und Belarus.

Gleichwohl sprach sich Solschenizyn für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine aus – aber ohne den Donbass und die Krim, die russisch sind. Das sind die Fragen, um die es heute geht. Kissinger hatte das begriffen: Die Russen wollten mit der Sowjetunion aufräumen, den Kommunismus überwinden, aber nur die Nichtrussen wollten sich vom Imperium trennen.

Und was macht Europa? Es verspricht der Ukraine die Aufnahme in die Nato und die EU, verzichtet auf eine Armee und lebt vom russischen Gas. Das geht nicht zusammen. Es ist eine Tragödie. Früher zogen die Russen und die Europäer in den Krieg nach Asien. Jetzt kämpfen Koreaner in Europa.

Wer hätte sich das vorstellen können? Dass iranische Raketen Europa bedrohen. Ein lokaler Konflikt droht, zum Weltkrieg zu eskalieren, und wir, die Europäer, sind die Verlierer.


Weltwoche: Und selber schuld?
Lellouche: Wir haben uns getäuscht, weil wir so von der Überlegenheit unserer Werte überzeugt sind. Unsere Empörung ist nicht einmal unbegründet, es gibt einen Aggressor, es ist Putin.

Der Krieg hat Hunderttausende von Toten und Verletzten gefordert. Aber niemand auf der Welt teilt unsere Empörung. Und sie ist sehr selektiv. 300 000 Tote im Sudan, 500 000 in Syrien – von ihnen spricht niemand.

Hat sich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag mit al-Assad beschäftigt? Den sudanesischen General Hemedti angeklagt?


Weltwoche: Im Namen dieser Moral wurden Kriege geführt.
Lellouche: Die das Völkerrecht verletzten. Serbien wurde ohne Uno-Mandat bombardiert. Und was haben wir in Libyen angerichtet?


Weltwoche: Da war Sarkozy verantwortlich, dessen Berater und Minister Sie waren.
Lellouche: Er hat einen gewaltigen Fehler gemacht, rein emotional entschieden, unter Einfluss von Bernard-Henri Lévy. Für mich ist Lévy der Totengräber der französischen Außenpolitik. Wo es Tote gibt, war er vorher da.


Weltwoche: Auch die Amerikaner sind nicht zimperlich. Ihr Buch zeigt, wie die Amerikaner die Russen behandelten. Obama bezeichnete Russland als „Regionalmacht“, John McCain als „große Tankstelle mit Atombomben“. Auch von Biden erzählen Sie eine Anekdote.
Lellouche: Die Szene wurde gefilmt. Er war noch jung, Senator, so um die fünfzig Jahre. Er kam aus Russland. Die Russen hatten ihm gesagt, dass sie im Falle einer weiteren Erweiterung der Nato keine andere Wahl hätten, als sich mit den Chinesen zusammenzutun. Das war Kissingers Albtraum. „Viel Glück“, habe er ihnen geantwortet und ihnen geraten, es andernfalls mit dem Iran zu versuchen. Alle Anwesenden brachen in brüllendes Gelächter aus.


Weltwoche: Dass sich die Russen für die Demütigung rächen wollten, kann man verstehen.
Lellouche: Ja. Wenn ich als französischer Patriot so behandelt werde, reagiere ich genauso. Und die Amerikaner behandeln uns so. Das tun auch die Russen, die ihren Herrschaftsanspruch ebenso arrogant durchsetzen. Es handelt sich um Großmächte, und es ist nie einfach, Nachbar einer Großmacht zu sein. Nie.


Weltwoche: Wie beurteilen Sie die Entwicklung von Putin? Jean-Pierre Chevènement, der aus Protest gegen Frankreichs Beteiligung am Golfkrieg als Verteidigungsminister zurückgetreten war, sagte zur Weltwoche, dass er ihn nie für einen Unschuldsengel gehalten habe, aber auch nicht für einen blutrünstigen Diktator.
Lellouche: Na ja, den zweiten Krieg gegen die Tschetschenen führte er auf brutalste Art und Weise. Aber dem Westen gegenüber war er anfänglich keineswegs feindlich gesinnt. Man konnte mit ihm Geschäfte machen. Als ich mich für die Nato um Afghanistan kümmerte, halfen uns die Russen. Die französischen Soldaten gelangten über Russland nach Kabul. Es war die Zeit, als die Russen den Krieg gegen den Terrorismus mit uns als Partner führen wollten.

Aber wir haben sie nie zu verstehen versucht. Im Balkan und in Libyen wurden sie übergangen, ignoriert, gedemütigt. Und in Syrien haben wir nachgegeben – was es den Russen zwischenzeitlich erlaubt hat, wieder zurückzukommen. Der Westen hat viele Fehler begangen.


Weltwoche: Libyen war ein Fehler, aber in Syrien hätte man eingreifen sollen?
Lellouche: Ja. Es war falsch, in Syrien nicht einzugreifen – davon hat Putin profitiert, trotz dem jetzigen Sturz des Assad-Regimes. Obama sprach von „roten Linien“. Sie wurden überschritten, aber Obama scheute das Risiko einer Intervention.

Er war auch gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. 2014 hatte er zurückhaltend auf die Annexion der Krim und den „Euromaidan“ reagiert. Er anerkannte zwar die Wahl von Petro Poroschenko, doch die gewünschten Waffen bekam der neue Präsident nicht. Antony Blinken, Obamas Sicherheitsberater, begründete die Entscheidung damit, dass die Russen den Separatisten im Donbass sonst nur noch mehr Waffen liefern würden. Washington hielt sich auch aus den Minsker Abkommen heraus.

Weltwoche: Als erster amerikanischer Präsident lieferte Donald Trump Waffen.
Lellouche: Das ist eine weitere Ironie dieses verrückten Kriegs. Trump war um ein gutes Verhältnis zu Putin bemüht. Es gab Gerüchte, dass er von den Russen erpresst würde.

Trump interessierte sich nicht für die Ukraine, es ging ihm einzig um die dubiosen Geschäfte von Hunter Biden, der als Sohn des US-Vizepräsidenten von einer undurchsichtigen Gasgesellschaft Honorare in Millionenhöhe bezogen hatte. Das machte er dem frischgewählten Präsidenten Selenskyj per Telefon deutlich. Er wollte Untersuchungen gegen Hunter Biden und versprach Waffenlieferungen in Höhe von 400 Millionen Dollar.

Tatsächlich bekam Selenskyj 47 Javelins mit der Auflage, sie nicht einzusetzen. Sie ermöglichten es der Ukraine, in den ersten Tagen des Kriegs den Angriff auf den Kiewer Flughafen abzuwehren.


Weltwoche: Was kann Trump nach seiner Wiederwahl erreichen?
Lellouche: Wir befinden uns in einer heiklen, gefährlichen Phase. Die Verhandlungen stehen an, die Kriegsteilnehmer sind erschöpft.

Alle haben begriffen, dass die Ukraine nicht in der Lage ist, mit militärischen Mitteln die verlorenen Territorien zurückzuerobern. Außer die Nato zieht an ihrer Seite in den Krieg. Ihr ursprüngliches Ziel, die Eroberung der gesamten Ukraine, haben die Russen aufgegeben. Sie wollen den Donbass und die Krim behalten. Vielleicht planen sie, noch bis zum Dnjepr vorzudringen und Odessa zu besetzen. Ich halte das für eher unrealistisch.

Allerdings – die ukrainische Armee ist geschwächt. Der Vorstoß im Sommer nach Kursk ist gescheitert. Bei Verhandlungen werden die Russen auch die Neutralität der Ukraine fordern.


Weltwoche: Ist die Forderung nach einer neutralen Ukraine berechtigt?
Lellouche: Man hätte sie in Friedenszeiten aushandeln können, dann wäre der Krieg vermeidbar gewesen. Wir hätten es mit einer unabhängigen Ukraine in den Grenzen von 1991 zu tun.

Sie hätte ihre Wirtschaft in einer Partnerschaft mit der EU entwickeln können. Es wäre möglich gewesen. Die ideologische Obsession der offenen Tür, der permanenten Erweiterung der Nato, hat das verhindert. Am Nato-Beitritt der Ukraine entzündete sich der Krieg. Und jetzt sind es die Amerikaner, die ihn nicht wollen.


Weltwoche: Wie kann der Krieg zu Ende gebracht werden?
Lellouche: Die Russen sitzen am längeren Hebel, sie müssen zum Verhandeln gebracht werden. Trump muss zusammen mit den Chinesen Druck auf Putin ausüben, damit er sich mit dem Erreichten zufriedengibt.

Selenskyj muss den Verlust der Territorien – Donbass und Krim – gegen den Frieden eintauschen. Der Westen wird deren Annexion nicht anerkennen. Aber diese Situation gibt es anderswo auch: in Korea, auf Zypern, im Nahen Osten. Es ist mehr als zweifelhaft, dass Selenskyj politisch überleben kann.


Weltwoche: Wer wird die Neutralität der Ukraine garantieren?
Lellouche: Amerika wird sich weigern und Europa in die Pflicht nehmen. Die EU muss dann Truppen an die Demarkationslinie schicken. Ich hoffe, dass in einem Friedensvertrag der Beitritt zur EU festgehalten wird.

Er war Teil der Verhandlungen, die im März und April 2022 nach dem Ausbruch des Kriegs geführt wurden und die schon ziemlich weit gediehen waren.


Weltwoche: Sie sind für den EU-Beitritt?
Lellouche: Ja, aus Prinzip. Die Ukraine muss ihren Platz in der europäischen Familie finden.

Der Beitritt wird die EU radikal verändern. Aber wir brauchen eine Perspektive. Der Wiederaufbau wird 700 Milliarden kosten. Ein Großteil der EU-Gelder wird in die Ukraine fließen, die Belastungsprobe für Brüssel und die Proteste in den Mitgliedstaaten sind absehbar.

Die Klausel 47.2 des Vertrags von Lissabon regelt die gegenseitige Sicherheit: Ein EU-Mitglied, das angegriffen wird, muss von den anderen verteidigt werden. Das zwingt alle Staaten zum Aufrüsten – es wird Hunderte von Milliarden kosten.


Weltwoche: Europa ist nicht vorbereitet.
Lellouche: Madame von der Leyen schwadroniert weiter von Erweiterung: im Kaukasus, im Balkan. Und die Aufnahme der Ukraine. Dafür ist kein Cent vorgesehen. Hingegen will sie 500 Milliarden in den ökologischen Umbau investieren. Europa ist total neben den Schuhen.


Weltwoche: Und die Amerikaner?
Lellouche: Sie wollen den Krieg so schnell wie möglich beenden und sich um China kümmern. Trump wird sich weder an der Finanzierung des Wiederaufbaus noch an der Sicherheit beteiligen. Die europäischen Staaten sind geschwächt. Frankreich hat die dritte Regierung innert weniger Monate, in Deutschland muss eine neue gewählt werden. Die Kassen sind leer. Kann die EU das alles stemmen und überleben?


Weltwoche: Wie sehen Sie Frankreich?
Lellouche: Ich habe mein Land noch nie so desolat erlebt. Wir brauchen einen neuen de Gaulle. Wir müssen die Herrschaft über unsere Wirtschaft zurückgewinnen. Aber ist das innerhalb der EU überhaupt möglich?

Wir haben die Kontrolle über unsere Währung und unsere Grenzen – an denen die Zölle erhoben werden – verloren. Auch wir müssen aufrüsten. Dieser Krieg macht uns Franzosen bewusst: Die Atombombe schützt nicht vor einem konventionellen Krieg. Aber es gibt keine nationalen Armeen mehr: Großbritannien, Deutschland, Frankreich – jedes dieser Länder kann 200 Kampfflugzeuge aufbieten. 200 Panzer. Sechzig Kanonen.


Weltwoche: Wie beurteilen Sie Macron?
Lellouche: Ich habe nie an ihn geglaubt. Er ist wie ein verwöhntes, begabtes Kind im Spielzeugladen, das alles kaputtschlägt. Wir brauchen dringend eine Präsidentschaftswahl.


Weltwoche: Sehen Sie jemanden, der wie de Gaulle 1940 das Land retten könnte?
Lellouche: Aus meiner Erfahrung als Intellektueller und Politiker weiß ich: In Friedenszeiten produziert die Demokratie nur Mittelmaß – Mediokratie. Die Besten machen keine Politik.

Clemenceau, de Gaulle, Churchill – Figuren wie sie erscheinen nur in kriegerischen Zeiten. Und wenn der Krieg vorbei ist, schickt man sie umgehend in die Wüste. Das war das Schicksal von Clemenceau, de Gaulle und Churchill.


Weltwoche: Am Ende Ihres Buchs blicken Sie weit zurück. Im Mittelalter, als Europa von den Wikingern und den Sarazenen bedrängt wurde, erkennen Sie einen Hoffnungsschimmer.
Lellouche: Frankreich ist tausend Jahre alt. Es wird überleben. Aber im Moment ist der Horizont düster. Ende 2022 spielten die Russen, die Angst vor einer Invasion hatten, ernsthaft mit dem Gedanken eines Atomschlags. Heute schätze ich die Gefahr geringer ein. Aber es gibt immer das Risiko, dass jemand einen Irrtum begeht – es ist ein Krieg der Emotionen.


Weltwoche: Wer ist rationaler: Putin, Trump?
Lellouche: Putin ist ziemlich rational, Trump ein Phänomen an Resilienz und Potenz. Sein Werdegang ist sagenhaft. Wie er dem amerikanischen Justizsystem, das unerbittlich ist, widerstanden hat.

Er hat die Kontrolle über seine Partei errungen. Er ist dabei, sich im Einklang mit dem Volk der gesamten Elite zu entledigen.


Weltwoche: Ein Politiker mit dem Format von de Gaulle und Churchill?
Lellouche: Dazu fehlt ihm die intellektuelle Substanz. Aber er hat an seiner Seite einen Vizepräsidenten, J. D. Vance, der ein brillanter Denker und Schreiber ist. Sein Werdegang ist beeindruckend: Studium in Yale, Marine, Geschäftsbanker.

Er war ein heftiger Kritiker von Trump, dessen Nachfolger er in vier Jahren wohl wird. Vance schwebt eine Außenpolitik im Bruch mit der Doktrin „Frieden durch Gewalt“ der Republikaner vor. Die Neokonservativen haben sie vor einem halben Jahrhundert durchgesetzt.


Weltwoche: Es ist das Dogma, das Lévy und die antitotalitären Philosophen den Präsidenten seit François Mitterrand aufgedrängt haben. Den Angriff auf Libyen hatte Lévy nicht nur mit Sarkozy, sondern auch mit der US-Außenministerin Hillary Clinton angezettelt.
Lellouche: Ihre Argumente, sagt Vance, sind meistens falsch. Anlässlich des Kriegs gegen den Irak, bekennt er, habe er selbst – es sind seine Worte – an die Propaganda geglaubt und später die Lügen entlarvt.

Die gleichen Lügen macht er in der Rhetorik bezüglich der Ukraine aus. Vance plädiert für mehr Diplomatie und weniger militärische Interventionen. Seine Vorstellungen laufen auf eine kopernikanische Revolution der amerikanischen Außenpolitik hinaus.

 

19.01.2025

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